The gate to agile- Mein Besuch bei Sipgate

Mehr als 13.000 Besucher und Besucherinnen pilgern mittlerweile jedes Jahr zu dem für seine gelebte Agilität bekannten Telefonie-Unternehmen Sipgate in Düsseldorf. Letzte Woche war ich gemeinsam mit meiner Kollegin Nicola Sturm eine davon und sehr positiv beeindruckt von der Atmosphäre (soweit dies in 2 Stunden spürbar ist), dem informativen Rundgang (Danke an Phillip) und der überall vorherrschenden Transparenz, einer Mischung als Glaskästen, Boards und bunten Post-its.

Sipgate wurde 1998 (damals hieß es noch billiger-telefonieren.de) bzw. 2004 von den beiden Gründern Tim Mois und Thilo Salmon mit 13 Mitarbeiter*innen gegründet, die sich bis 2010 auf 70 Mitarbeiter*innen erweitern sollten. Anfangs führten die beiden Inhaber das Start-up quasi durch Management by walking around, was ab einer Größenordnung von 70 Mitarbeitenden zunehmend schwieriger wurde. Hinzu kam, dass das Unternehmen mit weiterem Wachstum an Schnelligkeit verlor. 2010 stand Sipgate daher vor dem Aus und es war klar, dass das Unternehmen sich neu erfinden musste, um wieder schneller und effektiver in den Arbeitsprozessen zu werden und auch näher an den Kundenbedürfnissen zu sein.

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Bald stand die Frage im Raum, ob und wie sich Software durch eine veränderte Unternehmenskultur schneller entwickeln läßt und wenn ja, wie müsste diese dann aussehen? Der Legende zufolge fand jemand in der U-Bahn einen Zettel auf dem die Scrum-Methode erklärt wurde und alle waren der Meinung, dass genau das jetzt gebraucht würde. So entstand die Idee, konsequent mit dem agilen Scrum-Framework zu arbeiten und das nicht nur in den Software-Entwicklungs-Prozessen. Sie holten sich Unterstützung bei Agile 42, einem der Agilitäts-Beratungen der ersten Stunde und stellten die Organisation, die Strukturen, die Prozesse und Rollen konsequent um. Heute können sie dank der Agilität nach eigenen Aussagen Items in wenigen Tagen an die Kunden ausliefern wofür sie früher 1 Jahr gebraucht hätten.

Sipgate ist mittlerweile auf 180 Mitarbeiter*innen gewachsen und erwirtschaftet einen Umsatz von 30 Millionen. Sie haben eine eigene agile Mischung aus starren Prinzipien und Freiheiten entwickelt. Dabei arbeiten sie in der Programmierung und in anderen Bereichen mit dem sog. Pairing Ansatz, bei dem 2 Personen an einem konkreten Problem arbeiten. Außerdem setzen sie auf sich selbstorganisierende, eigenverantwortliche und crossfunktionalenTeams. Wichtig ist ihnen eine konsequente gegenseitige Feedback Kultur, die immer von mindestens 3 Team-Mitgliedern gegeben wird. Auch das will gelernt sein.

An der Wand hängt eine Stempeluhr, wie man sie noch aus alten Zeiten kennt, es herrscht die strikte 40 Stundenwoche und auf ihrer Internetseite werben sie damit, dass es keine Überstunden gibt. Wer Überstunden macht, muss erklären, was bei ihm oder ihr nicht rund läuft und ist aufgefordert, sich Hilfe zu holen und diese Überstunden zeitnah abzubauen. Sich über (ggfs. unnötige) Überstunden zu profilieren, funktioniert in diesem Unternehmen nicht. Es gibt kein Homeoffice, keine Karrierestufen und keine Boni, weil man an diese Anreize im Unternehmen nicht glaubt, sondern eher auf intrinsische Motivation setzt. Dafür gibt es ein fixes Gehaltsmodell je nach Rolle und Aufgabengebiet, Berufserfahrung sowie Firmenzugehörigkeit und es besteht eine 30 Tage Urlaubspflicht.

In Daily Stand-ups bringen sich die Teams gegenseitig auf den Stand und was auffällt, sind die vielen Post-its an den Wänden und die analogen Kanban-Boards im gesamten Gebäude. Das führt zu einer enormen Transparenz, denn hier geht analog vor digital, was der klassischen agilen Denke eher zu widersprechen scheint. Aber nur so wird (fast) alles für alle sichtbar.

Ein besonderes Format stellt der Open Friday dar, eine Art Open Space, bei dem alle Mitarbeitenden einmal im Monat Themen vorschlagen können, an denen dann die Willigen arbeiten und diskutieren können. Die Regel lautet, wenn man nichts mehr in der Gruppe lernt oder beitragen kann, bitte in die nächste Gruppe zu wechseln.

Einer der Hauptunterschiede zu klassischen Unternehmen ist das sog. Peer-Recruiting, bei dem das Team entscheidet, wer eingestellt wird und konsequenterweise auch wer nach der Probezeit bleibt oder entlassen wird. Das führt dazu, dass Einstellungen sehr gut abgewägt werden, weil alle es vermeiden wollen, jemandem wieder kündigen zu müssen.

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Hier sieht man die Anzahl der neuen Kollegen und Kolleginnen von Sipgate in den letzten Jahren sowie die Anzahl der Kündigungen durch das Unternehmen oder die Kolleg*innen, die selbst gekündigt haben. In diesem Jahr waren es bislang 0, was eindeutig für den gewählten Weg des Peer-Recruitings spricht.

Bedauerlich ist - auch aus Sicht des Unternehmens - dass der Anteil Männer und Frauen vermutlich bei ca. 80/20 liegt und daher von Diversität oder zumindest Gender-Diversität noch nicht wirklich die Rede sein kann. Das liegt natürlich daran, dass Sipgate ein digitales Software-getriebenes Unternehmen ist, in dem üblicherweise mehr Männer tätig sind. Es könnte aber zusätzlich auch daran liegen, dass sich durch das Peer-Recruiting der sog. unconscious bias (unbewußte Vorurteile/Stereotypen) verstärkt wird, demzufolge wir eher die Person unterstützen oder einstellen, die uns ähnlich ist. Wie dem auch sei, Sipgate versichert glaubhaft, mit der Genderverteilung auch nicht zufrieden zu sein und daran weiter arbeiten zu wollen.

Mein Fazit: ein Besuch bei Sipgate lohnt sich und hat mein persönliches gate zur Agilität noch weiter geöffnet.